(K)EIN KONZERT FÜR ZWEI POSAUNEN UND ORCHESTER
Die «Tromboniade» von Sándor Veress
VON ANDREAS TRAUB

Die Tromboniade ist das letzte vollendete Werk von Sándor Veress. Entstanden in den Jahren 1989—1990, wurde sie am 14.März 1991 in Bern von den Bestellern und Widmungsträgern Pia Bucher und Branimir Slokar, begleitet vom Berner Sinfonieorchester unter Zdenek Kosler, zur Uraufführung gebracht. Mehr als zehn Jahre später kann die Partitur im Druck erscheinen.

Die Rubrik berücksichtigend, unter der dieser Text erscheint, kann man fragen, ob dies ein Werk der ungarischen, der schweizerischen oder gar einer kosmopolitischen Musikgeschichte sei. Zunächst: Die ungarische Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts hat sich, wie Jürgen Maehder kürzlich bemerkte, wesentlich im Exil abgespielt; man denke an Mátyás Seiber und György Ligeti. Bei Veress sind die Dinge noch etwas komplizierter. Verlust und Exil prägten mehrfach seinen Lebensweg: Transsylvanien während des Ersten Weltkrieges, später Moldawien, dann die ungarische Bauernkultur, schliesslich 1949 Ungarn selbst. Doch der Rückzug hörte dann nicht auf, sondern führte, nachdem einige Versuche, nun einmal von sich aus und willentlich den Schritt zum Neuanfang in neuer Umgebung zu tun, gescheitert waren, zu einem inneren Exil im äusseren, so dass sich Veress letztlich für schwerwiegender vereinsamt hielt, als er es wohl wirklich war — oder hätte sein können. Als «schweizerischer Komponist»? Dies wohl nicht. Veress hat stets respektiert, dass ihm in Bern die «menschenwürdige persönliche Freiheit und die Möglichkeiten zur Entfaltung meiner Kunst» geschenkt seien, aber es war seine Kunst, hervorgegangen aus seiner sehr persönlichen Lebensgeschichte mit ihren Verlusten und Erinnerungen. Für die Begegnung mit der Kunst Paul Klees, der entscheidenden künstlerischen Erfahrung nach 1950, waren Basel und Bern äusserer Anlass, nicht innere Notwendigkeit. Dieser Hintergrund prägt die Kompositionen von Veress, vor allem das von 1977 an entstandene Spätwerk.

Komponierte Rückschau

1986 hatte Veress mit dem Orbis tonorum sein kompositorisches Œuvre abgeschlossen. Der in diesem Werk durchmessene Bogen von den Tempi passati zu der weitere Möglichkeiten menschlicher Existenz im eigentlichen Sinn bezweifelnden Frage Tempi da venire…?, verbunden mit einer perspektivischen Schau der von ihm erarbeiteten Kompositionsweisen und die mit dem Zitat aus dem Ersten Streichquartett von 1931 unüberhörbar gesetzte «Signatur» unter ein Gesamtwerk lassen keinen Zweifel. Hinzu kamen der Vorblick auf den 80. Geburtstag und, schicksalhaft damit verschränkt, der Ausbruch der letztlich tödlichen Erkrankung. Warum also noch ein Werk? Der blosse Auftrag und auch die anregende Demonstration der Ausdrucksfähigkeit der Posaune bei einem Besuch von Bucher und Slokar — Veress beschied nachher telephonisch: «Jetzt weiss ich, was ich zu tun habe.» — reichen als Antwort nicht aus. Man muss wohl etwas weiter ausholen und Werke wie die Zweite Sinfonie (Sinfonia Minneapolitana, 1952) und das Konzert für Streichquartett und Orchester (1960—1961) in die Betrachtung einbeziehen.

Solche Rückschau ist nicht unstatthaft; Veress sprach gelegentlich von dem Wunsch, Stücke «nochmals» komponieren zu wollen, nicht — so war zu verstehen — um das vorliegende Werk auszulöschen, sondern um die kompositorische Situation aus unterdessen veränderter Perspektive nochmals zu überprüfen. Dabei würde «Neues» entstehen, nicht eine «Neufassung», anders etwa als bei Bruckner, bei dem eine Werkidentität postuliert wird: «Die Dritte» bleibt «diese» Sinfonie, obwohl sie 1888/89 wesentlich anders aussieht als 1873 (und in dieser Gestalt selbstverständlich jene ebenfalls nicht auslöscht).

Hier sind es vor allem zwei Situationen, die aufgerufen werden. Die naheliegende ist die des Orbis tonorum: Die «einfache kleine Melodie» (Veress) aus Tempi passati wird am Schluss von Tempi da venire…? nochmals angedeutet — in Tritonusdistanz —, bevor die leisen Trommelschläge ins Unhörbare hineinführen. Ist dies das endgültig Letzte, oder gibt es noch die Möglichkeit, «dennoch» Musik zu machen, d.h. Melodie zu entfalten? Weiter zurück liegt das Problem des sinfonischen Hauptsatzes, das Veress in der Zweiten Sinfonie mit einer besonderen Ausgestaltung der «Brückenform» gelöst hatte: Auf den kurzen Hauptsatz folgen der breitere Seitensatz, ein durch Kontrapunktik ausgezeichneter Mittelteil, eine Variante des Seitensatzes und dann eine Entfaltung des Hauptsatzes in Form eines langsamen Variationensatzes. Dieses Mittel könnte also einer sinfonisch-variativen Entfaltung der Tempi passati-Melodie dienlich gemacht werden. Was den «Vorbau» dazu angeht, greift Veress offenbar auf die Erfahrung im Kopfsatz des Streichquartett-Konzerts zurück, wie umfangreiche auskomponierte Kadenzen den Formverlauf bestimmen.

Ist die Konstellation dieser Situationen erkannt, so können zunächst einmal Einzelheiten rasch identifiziert werden. Das betrifft vor allem die Tempi passati-Melodie und ihre variierte Wiederkehr am Höhepunkt des Variationsteils der Tromboniade (Notenbeispiel 1). Man kann auch eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der sechstönigen motivischen Gestalt, die den ersten, raschen Teil der Tromboniade bestimmt, und dem Hauptthema der Zweiten Sinfonie erkennen (Notenbeispiel 2). Wenn am leise verklingenden Schluss der Tromboniade die sechs Töne der Gestalt vereinzelt und auf Harfe, Vibraphon, Viola und Celesta verteilt erscheinen, so erinnert das an den Kopfsatz des Streichquartett-Konzerts, an dessen Schluss die Grundreihe im Xylophon erklingt — nur die letzten drei Töne sind, in der Konsequenz des Satzes, mottoartig abgesetzt.

Sinfonische Entfaltung einer Frage

Über diese und andere Einzelheiten hinaus, auf die noch einzugehen ist, zeichnet sich ein Ergebnis bereits ab: Die Tromboniade ist nicht, oder: nicht nur das Konzert für zwei Posaunen und Orchester, das sie zu sein vorgibt (Veress meinte scherzhaft, er habe da wohl noch eine Gattung begründe); sie ist die sinfonische Entfaltung der den Orbis tonorum beschliessenden — oder müsste man nun sagen: offenhaltenden? — Frage. Dies hat unmittelbare Konsequenzen für die Interpretation: Ist das Sinfonische die entscheidende Dimension des Werkes, so hat sich der Posaunenklang dort, wo die Partitur es verlangt, dem Ganzen ein- und unterzuordnen;

der Versuch, ihn auch dort «solistisch» hervortreten zu lassen, ist schlicht falsch.

Die Tromboniade hat in der Zählung des Komponisten 212 Takte (der erste Satz der Zweiten Sinfonie hat 275 Takte); sie ist wie folgt gegliedert:

Allegro aggressivo:
1 Einleitung
2-49/50 Hauptsatz
50-101/102 Seitensatz
102-117/118 Schlagzeug-Partie, quasi Cadenza
118-127 Schlusssatz
Cadenza bis 141, in 137/138 Einsatz der Violinen
Andante tenero 142-148/149 Soli
149-155 Tutti
156-170 Soli
170-197/198, bzw. -200 Tutti
198-206 Soli
206/207-211 Schluss

Zum Vergleich: Der erste Satz der Zweiten Sinfonie ist wie folgt gegliedert:

Pesante 1-18/19 Einleitung
Allegro 19-33/34 Hauptsatz
33-51 Überleitung
52-67/68 Seitensatz
68-100 Mittelteil
101-140 Seitensatz
141-190/191 Einleitung
Andante 191-197 Hauptthema
198-215 Zwischenstück
216-222 Hauptthema (variiert)
223-228 Hauptthema (variiert)
229-269 «Höhepunkt» (Konzentration des musikalischen Geschehens)
270-275 Schluss

Die Anwendung einer von Erwin Ratz her gedachten Terminologie auf die Musik von Veress ist nicht falsch; sie hat zumindest heuristischen Wert. Auf Haupt- und Seitensatz folgt in der Tromboniade kein Mittelteil (Durchführung), wie in der Zweiten Sinfonie, sondern ein kadenzartiger Teil, der nicht den Soloinstrumenten, sondern dem Schlagzeug zugewiesen ist. Eine auskomponierte Orchesterkadenz verwendet Veress zuerst im Violinkonzert (1939); im Streichquartett-Konzert gewinnen die Kadenzen formbestimmende Funktion; so ist es auch hier. Dabei geht es um die Verkürzung der Form. Mit der Kadenz wird der Satzzusammenhang aufgehoben; der kurze, einfach gehaltene Schlusssatz wirkt wie ein Zitat. Die Andeutung der Konturen des sinfonischen Kopfsatzes genügt hier, da es offenkundig «nur» um ein kompositorisches Problem geht, bei dem die nicht erforderlichen Ausführlichkeiten beiseite bleiben müssen.

Betrachtet man den Hauptsatz, so zeigt sich das Problem der Gattung. Was die Posaunen vortragen, steht zwar im «Vordergrund», ist aber offenkundig unterthematisch. Demgegenüber markieren die «begleitenden» Akkordschläge im Orchester mit ihren Hochtönen eine Linie, die, wenn man sie umschreibt, indem man die Pausen zwischen den Akkorden in Tondauern umsetzt, sich als Melodie erweist, die durchaus als Variante der Tempi passati-Melodie gelten kann (Notenbeispiel 3, vgl. Notenbeispiel 1). Sie ist dreiteilig angelegt; während die beiden ersten Teile aneinander anschliessen, ist der dritte abgerückt, und vor ihm erklingt in T. 22 im allargando molto der markante Tritonusaufstieg e´´-fis´´-gis´´-ais´´. Er ist wie eine Ankündigung des Schlusssatzes zu verstehen, des Aufstiegs von f´´ zu e´´´. Diese melodische Substanz verdeutlicht den Charakter des Tonsatzes: Das Orchester ist ein Ganzes, unter Einschluss der Solisten; es handelt sich um Sinfonik.

Die Melodiekontur unterscheidet sich darin von der Tempi passati-Melodie, dass an vierter Stelle der Tritonus- und nicht der Quintton erklingt. Zum einen gehört der Tritonus-Quint-(oder Quart-)Wechsel zu den Grundgegebenheiten des Tonsatzes bei Veress, mit der er in einer festen Tradition steht; zum andern zeichnet sich mit a´-es´´-b´ die Konstellation der Töne 4—6 der Sechstongruppe der Posaunen ab, und die Töne h´-c´´ stehen hier wie dort an zweiter und dritter Stelle. Die unterthematische Sechstongruppe ist also eine auf einen Bewegungsimpuls reduzierte Form der Melodik. Was im Hauptthema in der Zweiten Sinfonie vereinigt ist — Bewegungsimpuls und thematische Kontur — ist hier in zwei Tonsatzschichten auseinandergelegt.

Der Seitensatz beginnt in T. 50 damit, dass der Zentralton A erreicht wird und dann im Kontrabass (leere Saite) bis T. 67 als Fundament liegen bleibt. In T. 52-54 erklingt darüber das Seitenthema, in den Holzbläsern vom Fagott zu Flöte und Oboe aufsteigend. Einerseits beginnt es mit F-G-As… wie eine Variante der Grundmelodik auf der Grossterzstufe, in der nach dem Ges die kleine Sext des als Gegenstück zum Tritonus im Hauptsatz erscheint. Andererseits erweist es sich als Spiegelung des Hauptthemas im zweiten (!) Satz der Zweiten Sinfonie (Notenbeispiel 4). Zweierlei ist entscheidend: Zum einen holt Veress so auch jenen formal wesentlich einfacheren, von einer typischen Tempo giusto-Rhythmik geprägten Satz in die Erinnerung hinein, zum anderen bricht er aber genau diese Rhythmik durch die Viertelpausen in T. 53-54 auseinander; es entsteht kein übergreifender Bewegungszug. Dieser «aufgebrochene» Teil des Themas erscheint nochmals gegen Ende des Seitensatzes in den Posaunen, unmittelbar gefolgt von der abschliessenden Figur G-des-As der Pauken (T. 89-91). Sowohl im Haupt- wie im Seitensatz der Tromboniade kommt also keine unmittelbare Thematik zustande; es tauchen Elemente auf, die in der Erinnerung zusammengefügt werden müssen.

T. 1 als Einleitung zu bezeichnen, erscheint beträchtlich übertrieben, doch klärt es ein Moment der Materialdisposition. Im Xylophon erklingen f-c-ges´ und in der Pauke e-H-F. Verbindet man dies mit den letzten drei Tönen der folgenden Posaunenfigur, …a-es´-b, so zeichnet sich eine vom Zentralton A ausgehende Quint-Tritonus-Reihe ab: A-es-b-e-h-f-c-ges(-cis-g-d-gis), deren letzter Ton Ansatzton der Posaunenfigur ist. Eine vergleichbare Quint-Tritonus-Reihe findet sich in der Einleitung der Zweiten Sinfonie. Was dort zum Formteil von 18 Takten entfaltet ist, wird hier nur angedeutet; die Funktion steht aber ausser Frage.

Urphänomen von Musik

Am Schluss des Hauptsatzes wird über dem ab T. 39 erklingenden Ton F ein neunstufiger Klang aufgebaut: F-es-h-e´-fis´-cis´´-g´´-c´´´-as´´´. Eine «Fanfare» der Hörner und Trompeten ergänzt mit d´-b´-a´´ zur Zwölfstufigkeit und artikuliert dann den Tritonusschritt a´´-es´´ (T. 44-46, Notenbeispiel 5). Danach folgt eine «Glissando-Durchstreichung» des ganzen Tonsatzes, die zum tiefen A, der Basis des Seitensatzes, führt (T. 46-49/50). Die «Fanfare» steht in Konstellation zu einem wesentlich breiteren Gestus der Posaunen gegen Ende des Seitensatzes, vor dem «aufgebrochenen» Teil des Seitenthemas (T. 81/82-88). Mit ces´-b´ setzt er um einen Halbton höher ein als die «Fanfare», und er führt über den Kleinterzschritt zum des´´ und eine fallende Quint-Tritonus-Folge zum g. Hiermit ist wohl ein noch tiefer liegendes Zentrum der Musik von Veress berührt. Dies kann nur angedeutet werden: Bartók übernahm von Ilmari Krohn das Verfahren, Volksmelodien zum Zweck der Vergleichbarkeit durchweg mit dem Schlusston G aufzuzeichnen. Die Annahme ist nicht grundlos, dass sich daraus bei Veress eine Ausrichtung auf G als auf «das» Zentrum von Musik überhaupt ergeben hat. Dies sei dahingestellt; es wäre durch eindringliche Sichtung der musikalischen Aufzeichnungen von Veress zu erhärten. Zumindest erschliesst sich von dem Posaunengestus her die Stelle in der Kadenz zwischen raschem und langsamen Satz, an der die Soloinstrumente in rascher Bewegung auf den Tritonus f-h eingegrenzt werden, während wie aus weiter Ferne der Terzruf g´´´-e´´´ in einer elementaren, kinderliedartigen Artikulation erklingt, gespielt von Crotali (Cymbales antiques), auf deren Verwendung Veress bestand. Man ahnt, dass man hier gleichsam in ein «Urphänomen» von Musik hineinhört. Die Stelle hat ihr Gegenstück im Orbis tonorum: In Verticale e orizzontale führt ein abstürzendes Harfenglissando aus dem melodisch geprägten Mittelteil zurück in die rasche, gleichsam amorphe Bewegung der Rahmenteile hinein, und genau dort, ebenfalls in einer Art «Ur-Situation», erklingt derselbe Terzruf, nun als G-E im Fagott. Durch die besondere Höhe hier und die Tiefe dort wird die Ferne verdeutlicht, aus der dieses «Singen» hertönt.

Der Terzruf der Crotali hat die formale Funktion, zum langsamen Satz(-Teil) zu führen. In der Zweiten Sinfonie geschieht dies mit einem breit entfalteten Rückgriff auf die Einleitung (T. 157-178) — sinfonische Präsenz dort, äusserstes Zurückweichen hier. Das folgende Posaunenglissando E-Fis schafft Distanz, und mit dem a´ der Violinen in T. 137/138 beginnt schon das Andante. Dessen erster Teil enthält drei Melodiebögen: T. 137/138-142 (Violine I), T. 142-145 und T. 146-149 (Posaune I). Der erste beginnt a´-cis´´-h´…, der zweite wie eine Umkehrung f´-des´(-es´-fes´…)-g… und der dritte wie mit einer intervallischen Dehnung von Grossterz zu Tritonus und Ganzton zu Grossterz a´-es´-des´…. Die Grossterzdistanz der Anfangstöne entspricht der Situation zu Beginn des Seitensatzes. Zu Beginn des diesem ersten Teil formal entsprechenden Tutti T. 170-197/198 erklingen zwei Melodiebögen, dessen erster (T. 170-174) demjenigen von T. 142-145 fast genau entspricht. Der zweite (T. 175-179), auf a´´ ansetzend, ist die zentrale Variante der Tempi passati-Melodie, aus der sich der sinfonische Höhepunkt des ganzen Werkes entfaltet. Auch hier stehen die Ansatztöne in Grossterzdistanz, und rückblickend erkennt man in der Melodie in T. 142-145 mit der Tonfolge as-b-ces´-es´ und ihrer Artikulation den halbtonverschobenen Beginn von Tempi passati. Zugleich lässt sich vom vierten Ton es´ aus der Bogen zur Melodiekontur zu Beginn des raschen Satzes schlagen: a´´-h´´-c´´´-es´´´.

Nur beiläufig ist zu bemerken, dass der jeweils erste Melodiebogen der beiden Formteile eine Reihenstruktur hat. In T. 137/138-142 «stört» nur der viertletzte Ton ges´, und die Töne …e´-c´, mit denen die Melodie rückläufig zum Beginn abgeschlossen wird, führen über das Reihenende hinaus; in T. 170-174 liegt eine vollständige Zwölftonreihe vor (Notenbeispiel 6). Wie ist dieser Befund einzuschätzen, wenn auch vorläufig, weil ohne weitergehende Untersuchungen der Skizzen? Die Reihen haben zwar gemeinsame Elemente (Identität der Positionen 2 und 4, Vertauschung der Positionen 1 und 10, Konstellation der Positionen 6 und 12 sowie 12 und 9, die in der von A ausgehenden Reihe Ober- und Unterquint sind); sie sind aber kaum offenkundig auseinander abzuleiten. Die späte und beiläufige Erwähnung von Reihen — oder: Zwölftongestalten? — scheint eine Verkennung der satztechnischen Prioritäten, zumal die Gestalten wichtige Stellen im Formverlauf markieren. Es ist jedoch zu bedenken: Die Reihentechnik bedeutete zwar viel für Veress, nichts weniger als die «Orientierung im weiten europäischen Horizont» nach der Emigration aus Ungarn 1949, doch war sie nicht das Erste und Einzige. Im Bild: Veress orientierte sich, gab sich, d.h. seine Art des Komponierens, aber nicht auf. Zumal in dem mit dem Glasklängespiel (1977/1978) beginnenden Spätwerk sind Reihen ‹auch› wichtig, aber nicht vordringlich, und das brillante Spiel mit den Reihen im Capriccio delizioso im Orbis tonorum verdeutlicht die Distanz. Veress arbeitete vor allem mit Tonordnungen ‹unterhalb› einer Reihe, wie Verticale e orizzontale ausweist, unter dem Leitstern der übergreifenden, ‹Musik überhaupt› bestimmenden Idee von Melodie. Deren Keim ist ein Kleinterzruf, wie er in den Crotali erklingt. Die Spannung zwischen ihm und der entfalteten Tempi passati-Melodie ist das eigentlich leitende Prinzip der Tromboniade; die Reihen — nochmals — sind demgegenüber beiläufig. Die innere Distanz zur Reihe lässt sich auch bei der Tempi passati-Melodie selber feststellen, obwohl dort Reihenskizzen vorhanden sind. Die Melodie ist — an dieser Stelle nur kurz gesagt — reihenorientiert, nicht reihengeneriert.

Zu der in T. 183 mit dem tiefen Des ansetzende und mit «molto espressivo» versehene Melodielinie haben sich zwei Skizzen gefunden, auf denen die Beischrift «Golden gate» notiert ist. Bis zum des´´ in T. 190 betrachtet, erweist sich diese Melodie als Folge zweier Zwölftonfolgen (vielleicht besser zwölfstufiger Folgen): Des-c-a-d-gis-e-ges-f-es-ces-b-g — c-fis-g-a-b-d-h-e-as-f-es-Des (bei b-d-h geht die Melodie in die Violinen und hohen Holzbläser über). Bemerkenswert ist die analoge Strukturierung der Töne 1-3 und 10-12 der ersten Folge (Halbton — kleine Terz) und die Gegenläufigkeit von 1-3 der ersten und 10-12 der zweiten Folge beim Halbton-Ganzton-Wechsel seitlich des Zentraltons Des. Betrachtet man die vorhergehende Melodik, die Tempi passati-Variante, so zeigt sie sich als elfstufige Struktur: A-h-c-e-dis-cis-eis-fisis-gis-d-c - b-c-e-h-es-f-g-A, und betrachtet man die in T. 191-200 folgende Melodik, so erweist sie sich als zehnstufige Struktur: A-fis-c-g-fis-f-h-ais-g-fis-a-gis-ais-eis-d-h-cis-A. Es gibt also drei strukturelle Bögen: A — A, Des — Des, A — A, die im Grossterzabstand stehen. Ähnlich sind die «Ganztonschlüsse» f-es-Des, f-g-A und h-cis-A; dabei kann der Schluss es´´-f´´-g´´-a´´ in T. 181-182 mit dem artikulierenden Aufstieg e´´-fis´´-gis´´-a´´ in T. 22 verglichen werden, und der Schluss h´´-cis´´´-a´´ in T. 199-200 bezieht sich direkt auf den Beginn a´-cis´´-h´ in T. 137-139. Zweifellos konzentrieren sich hier viele, wenn nicht alle strukturellen Momente des Werkes. Was aber besagt die Beischrift? Die Frage nach einer Deutung des «Golden gate» muss vorerst offen bleiben. Zuerst denkt man an San Francisco und die dreigliedrige Brücke — eine Assoziation, die hinsichtlich der Bedeutung der «Brückenform» für Veress wohl nicht abwegig ist. Vielleicht muss man aber auch den gedanklichen Zusammenhang mit dem Orbis tonorum — und die biographische Situation — berücksichtigen, und dann könnte die Tatsache, dass die Beischrift bei der vom tiefen Des aufsteigenden Melodie steht, in Konstellation mit der Beziehung des ganzen Werkes sowohl zu Tempi passati wie zu Tempi da venire…? auch eine metaphorische Deutung ermöglichen. Vielleicht finden sich noch Notizen, die die Beischrift erhellen.

T. 149-170 ist Mittelteil des langsamen Satzes und hat eine eigene Melodik, die deutlich zweistimmig angelegt ist. Die Ansatzwendung der Violinen in T. 149-150 lautet gis´´-dis´´-cis´´-g´-d´´, verbunden mit der genauen Umkehrung b-es´-f´-h´-e´. Sie weist auf die Quint-Tritonus-Reihe der Einleitung und hat mit der unterthematischen Posaunenfigur im Allegro aggressivo den Tritonus-Quart(Quint)-Schluss gemein. Diese Beziehung wird von T. 159 an immer deutlicher, und in T. 166 erklingt in Posaune I mit as´-f´-e´-g´-cis´-fis´ die genaue Umkehrung der Ansatzfigur aus T. 2, gefolgt von ihrer Tritonustransposition d´-h-ais-cis´-g-c´. Damit schliesst sich auch dieser Kreis. Was im Hauptsatz des Allegro aggressivo auf das Orchester und die Soloinstrumente verteilt ist, erscheint im Andante tenero auf Rahmenteile und Mittelteil auseinandergelegt und jeweils zu melodischer Entfaltung gebracht, und so ist völlig konsequent, dass die Ansatzfigur aus T. 2 rückläufig und weit gedehnt die Schlusstakte des Werkes konturiert.

Verlust und Erinnerung

Was ist die Tromboniade? Die Antwort ist nicht einfach und nicht vom Titelblatt der Partitur abzulesen. Sie ist ein Werk «darüber hinaus», das zeigt ein Blick auf den Orbis tonorum. Sie ist ein Zugriff auf kompositorische Probleme, die offenbar lange ungelöst vorhanden waren, das zeigt der Blick auf die Zweite Sinfonie. Alles, was in sie eingeht, erscheint in einer Verknappung, die sie — unvermittelt aufgenommen — dem Missverständnis aussetzt: Man meint, ein «Posaunenkonzert» vor sich zu haben, hat es aber mit einer aus einer Melodie entfalteten sinfonischen Kontur zu tun. Es ist, entgegen dem Anschein, ein schwieriges Werk, und es bedarf etwas Geduld, um in es hineinzuhören und die Spannweiten zu ermessen, die sich in ihm eröffnen. Abschliessend sei auf einen scheinbar fernliegenden Ansatzpunkt verwiesen: «Bei uns war alles Melodie», sagte Veress einmal — und in dem «bei uns war…» konzentrieren sich Verlust und Erinnerung in einer kaum mehr zu erhellenden Weise: Wer sind «wir», und wann «war» dies so? Diese Fragen bleiben offen; vielleicht sind sie überhaupt nicht zu beantworten. Was Veress mit der Bemerkung aber meinte, hat er in der Tromboniade nochmals gezeigt; und allein das gilt es zu hören.

 

Literatur:

Sándor Veress — Festschrift zum 80.Geburtstag, hg. von Andreas Traub, Berlin 1986.
Sándor Veress — Aufsätze, Vorträge, Briefe, hg. von Andreas Traub, Hofheim 1998.
Andreas Traub, «Sándor Veress — Zur Biographie. Zur Sinfonia Minneapolitana», in: Stefan Fricke u.a. (Hg.), Zwischen Volks- und Kunstmusik — Aspekte der Ungarischen Musik, Saarbrücken 1999.
Andreas Traub, Zeitschichten — Zum Orbis tonorum (1986) von Sándor Veress (fragmen 28), Saarbrücken 1999.
Thomas Gerlich, Michael Kunkel, «‹Tempi passati› or ‹Tempi da venire…?›: Seeking Melody in the Music of Sándor Veress and György Kurtág», in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae 43, 2002, S. 421-438.
Bodo Bischoff, Thomas Gerlich, Andreas Traub, Sándor Veress: Das Glasklängespiel, Chorlieder nach Gedichten von Hermann Hesse, in Vorb.